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Reise nach Ostpreußen
 
Aug/Sep 1997

 


 
 

 


-   P r o l o g   -


    ...Lötzen, Masuren, Ostpreußen... Diese Namen begleiten mich schon ein Leben lang. Wie oft habe ich Lötzen, meinen Geburtsort, schon schreiben müssen? Und auch oft mit dem Schrägstrich /Ostpr. Während der Schulzeit, dem Militär, dem Studium, bei Bewerbungen, im Berufsleben und bei meinen Reisen in Länder rund um den Globus. Immer wieder Lötzen. Eigentlich nur ein abstrakter Begriff für mich, mehr ein Gefühl und oft auch mit etwas Wehmut dabei. So viele Länder habe ich bereist, aber Lötzen blieb stets unbestimmt. Es lag über Jahrzehnte auch so unerreichbar entfernt, weit im düsteren Ostblock.

     Auf meinen diversen Atlanten hatte ich in der Vergangenheit des öfteren Lötzen gesucht und gefunden. Inmitten von Seen lag es, nördlich der große Mauersee und südlich der noch größere Spirdingsee. Und quer über ein riesiges Gebiet bis rechts außen nach Ostpreußen hin stand "Unter polnischer Verwaltung". Ich habe diesen Schriftzug nie akzeptiert. Für mich war und blieb alles Deutschland. Es konnte einfach nicht sein, daß so ein riesiges Territorium mit Millionen von deutschen Menschen schlicht abgetrennt wird, die dort Heimischen umgebracht oder rausgeschmissen und mit anderen Menschen, die nichts aber auch gar nichts mit diesem Land zu tun haben, besiedelt werden. Dieses Gefühl beherrscht mich auch heute noch, selbst nach dem jetzigen, tatsächlichen Besuch von Ostpreußen… nur der Verstand versucht das Unfaßbare des wirklichen Verlustes zu verarbeiten. Innerlich akzeptieren werde ich es aber wohl nie.

     Vor hatte ich es schon lange, Lötzen einmal zu besuchen, da ich meinen Geburtsort niemals bewußt erlebt habe. Aber irgendwie war ich gefühlsmäßig doch noch nicht dazu bereit. Hatte ich Angst davor, wenn ich all die fremden Menschen, die Polen sehe, die seit vielen Jahren heute dort leben, daß auch für mich Ostpreußen endgültig als verloren erscheint? Oder daß ich die Feststellung machen muß, daß die Polen nicht anders sind als ich, mit denselben Problemen, Ängsten und Freuden? Oder daß ich mit einzelnen Polen menschlichen, vielleicht sogar freundschaftlichen Kontakt bekommen könnte mit der nachfolgenden auch gefühlsmäßigen Einsicht, daß man diesen dann bekannten Menschen Lötzen, die Masuren und Ostpreußen nicht mehr nehmen will, selbst wenn sich wider jedes Erwarten für Deutschland die Möglichkeit einer Rückgabe ergeben sollte?

     Endgültig aber reifte der Entschluß, meinen Geburtsort nunmehr tatsächlich aufzusuchen, auf dem Rückflug von Nepal nach Frankfurt im November 1993. Ich konnte es nicht fassen, auf dem Monitor im Passagierraum erschien nämlich mitten in der Nacht als Flugleitstelle für unser Flugzeug Lötzen (so fürchterlich häßlich auf polnisch: Gizycko) auf der Landkarte. Und wir flogen exakt darüber hinweg. Unglaublich starke Gefühle kamen in mir hoch. Hier unter uns also, nur ca. 10.000 m tiefer war die Stelle, wo mein Leben begann. Und das fast noch auf den Tag genau vor 50 Jahren. Es war schwierig, es mir wirklich, wirklich bewußt zu machen. Auch die Tatsache, daß meine Eltern dort unten viele Jahre gewohnt, gelebt haben mit all ihren Freuden und auch Kummer und dann dem fürchterlichen Leid, alles zurücklassen und fliehen zu müssen. Daß alle meine Geschwister hier geboren worden sind, Peterchen, Heidi, Renate und eben auch ich. Wie mag es jetzt dort unten aussehen? …Schnell rückte aber unser kleines stilisiertes Flugzug auf der Monitorlandkarte weiter, flog über Westpreußen, den so unseligen polnischen Korridor, der Ostpreußen zu einer Insel gemacht hatte, streifte Pommern und dann die noch grausamere Oder-Neisse-Linie. Das sollte also Deutschlands Grenze sein, hunderte von Kilometern westlich von Lötzen. Ich wollte es einfach nicht wahrhaben.

     Ab diesem Zeitpunkt achtete ich nunmehr aber verstärkt auch auf Prospekte, die Ostpreußen im Programm hatten und sammelte sie. Dennoch gingen fast 4 weitere Jahre ins Land, bis es wirklich so weit war und die Buchung endgültig anstand. Der kleine Reiseveranstalter " Warias" in Bergkamen hatte die richtige Tour für Gabi und mich: Eine achttägige Busreise mit dem Stützpunkt Lötzen als Ausgangsort für fest geplante Tagestouren in die Masuren sowie nach Königsberg mit der Samlandküste. Und zudem mit der Möglichkeit, sich noch eine weitere Woche in Lötzen privat einzuquartieren, was ich ja unbedingt vorhatte. – Ende Juni war's dann geschehen ... Lötzen, Lötzen.

     Zur Reisevorbereitung - insbesondere für die zweite Woche - ging ich alsbald auf Suche nach Reisebüchern und Kartenmaterial. Straßenkarten stellten kein großes Problem dar. Die darauf enthaltenen polnischen Ortsbezeichnungen für die deutschen Städte und Dörfer stachen mir allerdings tief ins Herz. Nur teilweise standen noch in kleiner Schrift auch deutschen Namen darunter. Aktuelle Bücher über Ostpreußen gibt's dagegen kaum. Das Ausführlichste ist zu allem Überfluß noch in englischer Sprache abgefaßt. Ich kaufte es dennoch. Es enthielt nämlich tatsächlich den ersten Stadtplan von Lötzen, den ich jemals gesehen hatte. Mir kam dabei nämlich die Idee, Tante Marga einzuschalten, die - wie ich wußte - ehemals bei uns auf Besuch in Lötzen gewesen war. Vielleicht kann sie ja anhand des Plans noch die genaue oder zumindest die ungefähre Lage unseres damaligen Hauses bestimmen. Denn unser Haus zu finden, vielleicht sogar in unsere Wohnung kommen zu können, war mit Abstand mein größter Herzenswunsch. Würde er erfüllt werden können? Stand das Haus aber überhaupt noch? Bei nur 30 %-iger Kriegszerstörung - wie im englischen Buch geschrieben steht - müßte wohl doch einiges dafür sprechen. Ich hoffte es jedenfalls innig.

     Der Brief an Tante Marga wurde alsbald aufgesetzt und eine Kopie des Stadtplans mit den leider nur polnischen Straßennamen beigelegt. Aufgrund meiner zwischenzeitlichen intensiven Nachforschungen in allen alten Alben hatte ich sogar unsere ehemalige Straße mit Hausnummer entdeckt, nämlich "Danziger Str. 39". Es stand schlicht auf meiner Geburtsanzeige, die ich zwar desöfteren schon gelesen hatte, mir insoweit allerdings nie bewußt geworden war. Wahrscheinlich weil diese Angabe für mich noch nie von Bedeutung gewesen ist. Nun wurde sie für meine Suche aber tatsächlich mehr als wichtig, ich war mir jetzt sogar sicher, daß ich erfolgreich sein müßte. Die Anwort von Tante Marga kam auch prompt; ihr Brief ist auf der vorletzten Seite des Albums abgeheftet. Auf dem Stadtplan rot eingezeichnet sollte nach ihrer Erinnerung der mutmaßlich richtige Weg zum Haus sein. Als ich dann allerdings bei meinem nochmaligen intensiven Studium der Karte direkt neben der roten Linie eine Straße mit dem Namen "ul. Gdanska" fand, wurde mir endgültig klar: Nur diese Straße dürfte die Richtige sein ! Mit meinem neuen Wissen und den alten Photos bewaffnet, insbesondere dem von Tante Marga mitgeschickten winzigen Bildchen von unserem ehemaligen Haus, konnte ich nunmehr doch ziemlich beruhigt auf die Reise in meine tiefste Vergangenheit gehen. ---



 





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     Der Wecker klingelt früh, um ca. drei Uhr. Die Augenlider hängen mehr als tief. Unser scharwenzelndes Lenchen (unsere geliebte Hündin) fehlt; wir haben es gestern Abend bei Susanne, Gabi's Kosmetikerin, unterbringen müssen. Nochmals alles in der Wohnung überprüfen, Rucksäcke auf die Schulter und ab geht' s mit dem Taxi zum Busbahnhof beim Düsseldorfer Flughafen. Eine ganze Gruppe älterer, grauhaariger Herrschaften wartet bereits, aber an einem anderen Bussteig. Unser Bus hält aber dort. Wir steigen alle ein; Gabi's und mein fester Platz liegen vorletzte Reihe rechts für die gesamte Tour. Oh je, unsere feste Vorstellung vom Platzangebot bei Busreisen können wir als erstes revidieren: Wir kommen uns vor wie in einem Flugzeug "Touristenklasse". Und das für ca. 1000 km an einem Stück, heute bis Thorn. Na, das kann ja heiter werden! Es geht auch gleich (ca. 4 Uhr) los, da offenbar alle Düsseldorfer komplett sind. Munter sind die Herrschaften vor uns wirklich und - ich finde es toll - man hört, hier sind wirklich echte Ostpreußen versammelt. Der gemütliche, unverkennbare ostpreußische Dialekt, der für mich schon immer faszinierend war, stimmt mich um so freudiger und erwartungsvoller auf mein Land der Masuren. Erster Stopp dann in Essen, Bahnhof, zweiter Stop in Dortmund, Bahnhof und immer steigen weitere grauhaarige, aber äußerst fidele Leutchen ein, die unverkennbar auch Ostpreußen sind. So viele Ostpreußen auf einem Fleck habe ich noch nie erlebt. Herrlich ! Und immer wieder der Dialekt, bei manchen etwas stärker, bei manchen etwas schwächer, aber stets eindeutig. Weiter geht die Fahrt. Irritiert schaue ich allerdings auf das jetzt bergiger werdende Land um uns, in das wir hineinfahren. Bergkamen hätte eigentlich doch längst erreicht sein müssen. Auf den Autobahnschildern tauchen Namen wie Hagen und Lüdenscheid auf. Es kann doch nicht wahr sein, im tiefen Sauerland werden tatsächlich weitere Leute aufgelesen und dann die ganze Strecke wieder zurück. Eine volle Stunde Umweg und noch keinen Schritt näher an unserem Ziel Thorn. 1000 km erwarten uns.

     Endlich in Bergkamen bei Warias. Alle gehen auf den Topf. Die erste Polin wird uns vorgestellt. Sie ist jung und hübsch und kommt … aus Ostpreußen. Gleichzeitig wollen wir durch die Tür. Ich will sie vorlassen, sie will mich vorlassen. Es geht zweimal hin und her, wir müssen lachen. Sie geht vor. Bis Hannover, das endlich ab 7.30 Uhr angesteuert wird, macht sie erstmalig eine Reiseleitung. Stau im Teutoburger Wald, dann Frühstück, später Wechsel des Fahrers und der Reisebegleitung bei Hannover. Die neue Leiterin ist wieder Polin, 57, schick, adrett, bestimmt und gutaussehend. Die Autobahn nach Berlin wird dreispurig ausgebaut, deshalb im dauernden Wechsel mal links rüber, mal rechts rüber. Weit hinter Berlin dann eine kurze, späte Mittagspause. Wir nähern uns nun der Oder bei Frankfurt. Mir wird flau in dem Gedanken an diese fatale Trennung deutscher Gebiete und der hier stattgefundenen millionenfachen Tragödien. Die Oder kommt in Sicht, nicht sehr breit aber schicksalsschwer. Von der Jahrhundert-Überschwemmung ist nichts mehr zu sehen. Wir sind schon auf der anderen Seite und halten. Dies soll also Polen sein; sogar mit offizieller Anerkennung durch Deutschland. Ich schiebe den Gedanken schnell zur Seite. Die Grenzkontrolle ist absolut problemlos. Wir wollen Geld tauschen. Bis ich aber von hinten her aussteigen kann, haben die anderen vor dem Wechselhäuschen schon eine Schlange gebildet. Mehrere jugendliche Polen stehen herum. Sie sehen gut aus, eigentlich gar nicht ausländisch, sprich polnisch. Es hätten ohne weiteres auch Deutsche sein können. Die vielen Zischlaute, s, schs, tz., ys weisen aber eindeutig auf ihre Zugehörigkeit hin. Die Zloty-Scheine sind neu und nur zweistellig. Drei Nullen dahinter wurden erst vor kurzer Zeit gestrichen.

     Wir fahren weiter. Auf der Straßengegenseite stehen über viele Kilometer Laster, da in Deutschland Sonntagsfahrverbot für sie herrscht. Links und rechts zunächst tiefe Wälder, dann öffnet sich das leicht hügelige Land weit mit Blick auf die bereits abgemähten aber noch goldfarbenen Felder und auf verstreut liegende kleine Waldflächen. Ab und zu tauchen auch völlig heruntergekommene Gehöfte oder kleine Ortschaften, jede aber mit einer Kirche versehen, auf. Dann wieder Wälder; eine liebliche Landschaft - wären nur nicht die verfallenden Häuser. Was wollen die Polen mit diesem Gebiet überhaupt, denke ich. Mitten im Wald stehen vereinzelt ausgesprochen hübsche, zum Teil noch blutjunge Mädchen in knalligen, aufreizenden Miniröckchen. Es sollen Rumäninnen, Bulgarinnen, Ukrainerinnen oder auch Russinnen sein, die sich hier verkaufen.

     Die Fahrt hört nicht auf. Stunde um Stunde vergeht. Mir will nicht aus dem Kopf, daß dies alles mal deutsches Gebiet war. Ich kann kaum noch sitzen. Posen muß wegen einer Umleitung zu allem Überfluß noch weiträumig umfahren werden. Gnesen, wo der Papst dieses Jahr über eine Million Polen versammeln konnte, wird durchquert. Völlig eben ist das Land geworden, es ist das Land der Weichsel. Endlich, endlich gegen 10 Uhr abends ist Thorn erreicht. Die Weichselbrücke mitten in der Stadt bietet zu dieser späten Stunde einen wunderschönen Blick auf die angestrahlte Altstadt. Direkt nebenan liegt unser recht ordentliches Hotel. Abendessen, ein herrliches Bier und ab in die Falle.







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     Ein strahlender Morgen. Unser Fenster geht genau Richtung Altstadt. Die wuchtigen Kirchen und Gebäude, nur aus roten Ziegelsteinen erbaut, sowie die vielen Türme und Türmchen formen ein beeindruckendes Gesamtbild. Wir nehmen uns zwei Stunden Zeit, das alte Thorn zu durchstreifen. Es war die Geburtsstadt von Nikolaus Kopernikus (1473-1543), dem Astronomen, der auch Medizin und Jura studiert hat. Thorn, insbesondere wegen seiner Pfefferkuchen (Kathrinchen) bekannt, ist kaum zerstört gewesen. Eine Stunde noch und Ostpreußen soll erreicht sein. Alle fiebern dem Augenblick entgegen. Zunächst geht's allerdings an den riesigen, häßlichen Plattenbauten von Thorn vorbei nach Strasburg, das in der Zeit des polnischen Korridors als Umschlagplatz der Bahn zwischen Reich und Ostpreußen eine bedeutende Rolle gespielt hat. Die Landschaft wird hügeliger und die ersten Alleen werden durchfahren. "Ostpreußen ist jetzt nicht mehr weit." verkündet Irene, unsere Reiseleiterin. "Gleich ist es so weit." Mir wird eigenartig zumute. Auch die anderen halten den Atem an. " Achtung… gleich… gleich… jetzt !, jetzt ! Meine Damen und Herren Sie sind jetzt in Ihrem Ostpreußen." Ich kann es nicht fassen, ich bin tatsächlich hier, hier ist Ostpreußen. Nach über 50 Jahren bin ich endlich hier, … wieder hier verbessere ich mich selbst und muß es mir richtig, richtig bewußt machen. Ich finde es einfach unglaublich und kann es auch noch nicht so recht fassen. "Wollen Sie jetzt nicht das Ostpreußenlied anstimmen, Ihre Landeshymne?" fragt Irene und unterbricht mein Gedanken- und Gefühlsdurcheinander. Alle rufen "Ja, ja". "Das mein ich aber auch." erwidert sie. Kräftig und gefühlsbetont schallt es dann durch den Bus "Land der dunklen Wälder …". Es beeindruckt tief, mit welcher Inbrunst diese älteren Herrschaften singen. Draußen ziehen Hügel, Wälder und Felder vorbei. Die Felder sind meist schon abgeerntet. Das goldgelbe Getreideheu ist zu großen Rollen geformt und weitläufig auf den Feldern verteilt. Es wirkt wunderschön. Ab und zu tauchen einzelne Höfe und kleinere Ortschaften auf. Dann der erste See, mehr ein Teich. Idyllisch. Am blauen Himmel wandern einzelne, weiße Wolken. Die Sonne scheint. Ja, so stimmungsvoll habe ich mir Ostpreußen immer vorgestellt. Es ist einfach etwas Besonderes!

     Osterode, das erste Städtchen taucht auf, an einem See gelegen. Leider auch hier zuerst die häßlichen und vielen, großen Plattenbauten. Es bedrückt mich, daß bereits so viele Polen angesiedelt worden sind, die doch eigentlich nicht hierher gehören. Es geht weiter, an Seen mit vielen Segelbooten, Feldern und Wäldern vorbei bis Allenstein vor uns liegt. Wieder riesige Plattenbauten mit 10 bis 15 Etagen und winzigen Balkonen, die offenbar nur zum Wäschetrocknen taugen. Wir fahren bis in den alten Kern der Stadt. Herrlich im Park auf einer Anhöhe gelegen, die rote Backsteinburg mit der zugehörigen Kirche. Im Innenhof der Burg wird noch renoviert. Dennoch ist es ein lauschiges Plätzchen zur Entspannung und Besinnung. Über eine alte Zugbrücke geht die Gruppe zum Markplatz und in nette, alte Gäßchen hinein. Viele der kleinen Häuser sind bereits renoviert, an anderen wird noch gearbeitet. Es ist hübsch hier im alten Allenstein. Ich nehme mir vor, in der zweiten Woche nochmals herzukommen; die Zeit hier war einfach zu kurz. Auf dem Rückweg zum Bus treffen Gabi und ich wieder die alte Frau, die kleine Flöten und einfachen Bernsteintand verkaufen will. Es ist eine echte, deutsche Ostpreußin. Sie ist traurig, daß niemand von uns Deutschen etwas haben wollte. Wir kaufen für ein paar Zloty, sie tut uns leid. Das Mittagessen wird in einem riesigen Gastraum in der Nähe einer gewaltigen, schön wieder hergestellten Kirche eingenommen.

     Dann geht die Fahrt weiter und immer näher an Lötzen heran. Bis an den Horizont reicht das hügelige Land. Immer wieder goldgelbe Stoppelfelder, nackte Felder oder noch mit Bohnengestrüpp bedeckte Flächen, einige Wiesen, kleine Seen zwischen alledem, vereinzelt stehende Bäume oder auch Baumgruppen und Waldstücke sowie hier und dort die für Ostpreußen so typischen langen Reihen der Alleebäume. Ich staune, die Straßen sind eigentlich schon auf der gesamten Strecke stets in bestem Zustand. Zuerst Wartenburg, jetzt Bischhofsburg; hier wurde der ostpr. Gauleiter Koch bis zu seinem Tode Mitte der achtziger Jahre gefangen gehalten. Nun das schöne, an waldumsäumten Seen gelegene Städtchen Sensburg. Kleine - auch etliche neue - Häuschen, alte Villen und prächtige Bauten aus deutscher Zeit zeigen sich. "Gizycko" lese ich jetzt zum ersten Mal auf einem Straßenschild und höre von Irene "Gischitzko" mit stimmhaften "sch".

     Über schmale, herrliche Alleestraßen, unmittelbar an gestreckten Seen entlang, sind's nur noch 30 km bis zu meinem Lötzen. Innerlich ungemein angespannt sauge ich die Landschaft auf den letzten Kilometern regelrecht in mich auf. Noch zwei kleinere Ortschaften werden durchfahren, der Löwentinsee zeigt sich mir erstmalig bewußt und dann tatsächlich: Ich sehe das Ortsschild "Gizycko"… Jetzt habe ich es also geschafft! Ich bin wirklich, wirklich hier, geht es mir durch den Kopf. Hier bin ich also geboren. Hier ist mein Ursprung. Hier hat Vati und Mutti gelebt. Hier ist auch Renate und Heidi geboren. Irgendwie kann ich es immer noch nicht ganz realisieren. - Noch ein Waldstück, dann müssen auch die ersten Häuser von Lötzen auftauchen. Jedoch biegt der Bus plötzlich von der Hauptstraße ab, kommt an einem winzigen See vorbei, nochmals links und unser Hotel liegt vor uns mit schmalem Ausblick auf einen kleinen, wunderschönen See, ansonsten aber mitten im Wald.

     Das Zimmer mit Bad ist sauber und ordentlich. Nach kurzer Dusche gehen Gabi und ich gleich die wenigen Schritte zum See hinunter. Das sich uns bietende Bild ist wunderschön: Blauer Himmel, waldumsäumtes blaues Wasser, weiße Segelboote darauf und eine warme späte Sonne über allem. In mir ist dennoch alles widersprüchlich: Einerseits die unbändige Freude, endlich, endlich und nach dieser langen Anreise in Lötzen zu sein und das herrliche Panorama genießen zu können, andererseits eine tiefe Trauer und auch Wut, daß dieses so friedliche und geruhsame Land nicht mehr deutsch sein soll. - Bald heißt's aber, essen gehen. Am Hoteleingang fährt gerade ein Taxi vor; zwei unserer Leutchen wollen sofort ins Städtchen. " Nach dem Essen fahren wir auch?! " meint Gabi. So recht möchte ich es - trotz meiner immensen, inneren Erregung und Spannung, ob wir unser Haus finden werden - dennoch nicht. Ich hatte mir eigentlich immer wieder ausgemalt, die Suche ganz bewußt zu einem tiefen Erlebnis werden zu lassen. Dafür wollte ich in wirklicher Ruhe, ohne Eile, mit Muße und besonders wachem Bewußtsein losgehen. Von der heutigen Fahrt bin ich aber abgespannt und morgen hieß es, für die Reise nach Königsberg bereits um 3 Uhr früh aufzustehen. Würde ich so die Gefühle bei unserer Suche und dem Finden meines Geburtshauses auch wirklich intensiv auskosten können? Wir machen's, das Wissenwollen siegt! (Einen Stadtplan von Lötzen findet man HIER )







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     Das telefonisch gerufene Taxi ist schnell da und zurück geht's durch den Wald bis zur Hauptstraße und dann links. Erst tauchen Schilder zu Hotels auf, dann tatsächlich die ersten Häuser von Lötzen, von meinem Lötzen. Rechts große Blocks, links kleinere Häuschen. Der Blick weitet sich und wir sind mehr als erstaunt: So groß hätten wir uns Lötzen nun wirklich nicht vorgestellt. Rechter Hand fast ein Häusermeer. Wir fahren hinein, viele große Gebäude, teilweise noch aus wilhelminischer Zeit, dann ein großer, teilweise begrünter Platz. Wir biegen in eine Alleestraße ein; es ist ganz offenbar die Hauptstraße von Lötzen. Dort die alte Kirche; das kann eigentlich nur meine Taufkirche sein, geht es mir durch den Kopf. Ein eigenartiges Gefühl beherrscht mich, wie wir so durch die noch belebte, abendliche Straße fahren. Wir biegen erneut ab, durchfahren eine eng bebaute Straße mit schönen alten Häusern und vorne, das muß der Bahnhof sein: alt, völlig heruntergekommen aber irgendwie typisch. Er ist es wirklich und wir halten direkt davor. Welche Bedeutung muß dieser Bahnhof schon für unsere Familie, für Vati und Mutti gehabt haben! Jede Reise mußte doch von hier aus unternommen worden sein und gerade auch die Flucht. Und ich war mit absoluter Sicherheit auch schon hier!

     Strahlenförmig gehen die Straßen vom Bahnhofsvorplatz ab. Dort drüben, halbrechts, muß die Danziger Straße sein. Meine Gefühle schlagen Wogen. Wir gehen hin; das Schild ist eindeutig: "ul. Gdanska". Gabi und ich schauen uns an. Auch Gabi ist jetzt aufgeregt. Wir gehen los. Rechter Hand, etwas abseits stehen ein paar Häuser, links unmittelbar keine. Wir gehen weiter. Jetzt weder links noch rechts Häuser. Links beginnt ein Wäldchen und rechts auch nur Bäume und hohes Gestrüpp. Es kann doch nicht wahr sein, daß hier keine Häuser sind. Ich bin enttäuscht. Dann muß Tante Marga also doch recht gehabt haben, überlegen wir. Wir gehen zurück und nehmen die andere Straße. Sie ist voll bebaut. Nr. 39 denke ich aufgeregt. Die Straße zieht sich. Nach rechts zweigt jetzt eine Straße ab. Das Wäldchen taucht wieder auf und gegenüber … Häuser. Also doch! Wir biegen in das neue Sträßchen ab, die "ul. Gdanska" wird wieder erreicht. Alte, größere Häuser stehen hier. Links jetzt Nr. 21. Eine Straße wird überquert, dann Nr. 27, 29, wir werden immer aufgeregter, dort vorn …die Gebäude entsprechen eindeutig meinem Bildchen; das letzte muß es sein !! Es ist es, es steht! Es ist für mich fast unwirklich, jetzt tatsächlich die Stelle zu sehen, die seit Jahrzehnten schon in meinen Gedanken war. Nr.37 steht mitten auf dem Haus; aber es gibt zwei Eingänge, jeweils an den Giebelseiten. Der hintere Eingang, unsere Wohnungsseite muß früher also 39 gewesen sein. Fast ehrfürchtig stehen wir noch etwas entfernt vom Haus. Im winzigen Vorgärtchen ist ein älterer Mann beschäftigt. Wir gehen auf die gegenüberliegende Straßenseite und schauen beide tief bewegt auf dieses alte, eigentlich nichtssagende Haus, das für mich eine so große Bedeutung aus der Vergangenheit hat. - Ich will zurück zum Bahnhof. Mir genügt für heute zu wissen, wir haben das Haus gefunden haben und es steht noch. Alles weitere will ich nun in Ruhe genießen. Wir wandern beglückt jetzt die gesamte Danziger Straße bis zum Bahnhof ab. Zur inneren Beruhigung und zur Feier dieses besonderen Tages wollen wir noch ein schönes, großes, frisch gezapftes Bier genießen. Auf der Terrasse eines kleinen Lokals mit Blick auf den Bahnhof wird es gezischt.

- F o r t s e t z u n g - II ----

Wappen von Lötzen

 


 

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