...Lötzen, Masuren, Ostpreußen...
Diese Namen begleiten mich schon ein Leben lang. Wie oft habe
ich Lötzen, meinen Geburtsort, schon schreiben müssen? Und
auch oft mit dem Schrägstrich /Ostpr. Während der Schulzeit,
dem Militär, dem Studium, bei Bewerbungen, im Berufsleben
und bei meinen Reisen in Länder rund um den Globus. Immer
wieder Lötzen. Eigentlich nur ein abstrakter Begriff für
mich, mehr ein Gefühl und oft auch mit etwas Wehmut dabei.
So viele Länder habe ich bereist, aber Lötzen blieb stets
unbestimmt. Es lag über Jahrzehnte auch so unerreichbar
entfernt, weit im düsteren Ostblock.
Auf meinen diversen Atlanten hatte ich in
der Vergangenheit des öfteren Lötzen gesucht und gefunden.
Inmitten von Seen lag es, nördlich der große Mauersee und südlich
der noch größere Spirdingsee. Und quer über ein riesiges
Gebiet bis rechts außen nach Ostpreußen hin stand "Unter
polnischer Verwaltung". Ich habe diesen Schriftzug nie
akzeptiert. Für mich war und blieb alles Deutschland. Es
konnte einfach nicht sein, daß so ein riesiges Territorium
mit Millionen von deutschen Menschen schlicht abgetrennt wird,
die dort Heimischen umgebracht oder rausgeschmissen und mit
anderen Menschen, die nichts aber auch gar nichts mit diesem
Land zu tun haben, besiedelt werden. Dieses Gefühl
beherrscht mich auch heute noch, selbst nach dem jetzigen,
tatsächlichen Besuch von Ostpreußen
nur der Verstand
versucht das Unfaßbare des wirklichen Verlustes zu
verarbeiten. Innerlich akzeptieren werde ich es aber wohl nie.
Vor hatte ich es schon lange, Lötzen
einmal zu besuchen, da ich meinen Geburtsort niemals bewußt
erlebt habe. Aber irgendwie war ich gefühlsmäßig doch noch
nicht dazu bereit. Hatte ich Angst davor, wenn ich all die
fremden Menschen, die Polen sehe, die seit vielen Jahren
heute dort leben, daß auch für mich Ostpreußen endgültig
als verloren erscheint? Oder daß ich die Feststellung machen
muß, daß die Polen nicht anders sind als ich, mit denselben
Problemen, Ängsten und Freuden? Oder daß ich mit einzelnen
Polen menschlichen, vielleicht sogar freundschaftlichen
Kontakt bekommen könnte mit der nachfolgenden auch gefühlsmäßigen
Einsicht, daß man diesen dann bekannten Menschen Lötzen,
die Masuren und Ostpreußen nicht mehr nehmen will, selbst
wenn sich wider jedes Erwarten für Deutschland die Möglichkeit
einer Rückgabe ergeben sollte?
Endgültig aber reifte der Entschluß,
meinen Geburtsort nunmehr tatsächlich aufzusuchen, auf dem Rückflug
von Nepal nach Frankfurt im November 1993. Ich konnte es
nicht fassen, auf dem Monitor im Passagierraum erschien nämlich
mitten in der Nacht als Flugleitstelle für unser Flugzeug Lötzen
(so fürchterlich häßlich auf polnisch: Gizycko) auf der
Landkarte. Und wir flogen exakt darüber hinweg. Unglaublich
starke Gefühle kamen in mir hoch. Hier unter uns also, nur
ca. 10.000 m tiefer war die Stelle, wo mein Leben begann. Und
das fast noch auf den Tag genau vor 50 Jahren. Es war
schwierig, es mir wirklich, wirklich bewußt zu machen. Auch
die Tatsache, daß meine Eltern dort unten viele Jahre
gewohnt, gelebt haben mit all ihren Freuden und auch Kummer
und dann dem fürchterlichen Leid, alles zurücklassen und
fliehen zu müssen. Daß alle meine Geschwister hier geboren
worden sind, Peterchen, Heidi, Renate und eben auch ich. Wie
mag es jetzt dort unten aussehen?
Schnell rückte aber
unser kleines stilisiertes Flugzug auf der Monitorlandkarte
weiter, flog über Westpreußen, den so unseligen polnischen
Korridor, der Ostpreußen zu einer Insel gemacht hatte,
streifte Pommern und dann die noch grausamere Oder-Neisse-Linie.
Das sollte also Deutschlands Grenze sein, hunderte von
Kilometern westlich von Lötzen. Ich wollte es einfach nicht
wahrhaben.
Ab diesem Zeitpunkt achtete ich nunmehr
aber verstärkt auch auf Prospekte, die Ostpreußen im
Programm hatten und sammelte sie. Dennoch gingen fast 4
weitere Jahre ins Land, bis es wirklich so weit war und die
Buchung endgültig anstand. Der kleine Reiseveranstalter
" Warias" in Bergkamen hatte die richtige
Tour für Gabi und mich: Eine achttägige Busreise mit dem Stützpunkt
Lötzen als Ausgangsort für fest geplante Tagestouren in die
Masuren sowie nach Königsberg mit der Samlandküste. Und
zudem mit der Möglichkeit, sich noch eine weitere Woche in Lötzen
privat einzuquartieren, was ich ja unbedingt vorhatte.
Ende Juni war's dann geschehen ... Lötzen, Lötzen.
Zur Reisevorbereitung - insbesondere für
die zweite Woche - ging ich alsbald auf Suche nach Reisebüchern
und Kartenmaterial. Straßenkarten stellten kein großes
Problem dar. Die darauf enthaltenen polnischen
Ortsbezeichnungen für die deutschen Städte und Dörfer
stachen mir allerdings tief ins Herz. Nur teilweise standen
noch in kleiner Schrift auch deutschen Namen darunter.
Aktuelle Bücher über Ostpreußen gibt's dagegen kaum. Das
Ausführlichste ist zu allem Überfluß noch in englischer
Sprache abgefaßt. Ich kaufte es dennoch. Es enthielt nämlich
tatsächlich den ersten Stadtplan von Lötzen, den ich jemals
gesehen hatte. Mir kam dabei nämlich die Idee, Tante Marga
einzuschalten, die - wie ich wußte - ehemals bei uns auf
Besuch in Lötzen gewesen war. Vielleicht kann sie ja anhand
des Plans noch die genaue oder zumindest die ungefähre Lage
unseres damaligen Hauses bestimmen. Denn unser Haus zu finden,
vielleicht sogar in unsere Wohnung kommen zu können, war mit
Abstand mein größter Herzenswunsch. Würde er erfüllt
werden können? Stand das Haus aber überhaupt noch? Bei nur
30 %-iger Kriegszerstörung - wie im englischen Buch
geschrieben steht - müßte wohl doch einiges dafür sprechen.
Ich hoffte es jedenfalls innig.
Der Brief an Tante Marga wurde alsbald
aufgesetzt und eine Kopie des Stadtplans mit den leider nur
polnischen Straßennamen beigelegt. Aufgrund meiner
zwischenzeitlichen intensiven Nachforschungen in allen alten
Alben hatte ich sogar unsere ehemalige Straße mit Hausnummer
entdeckt, nämlich "Danziger Str. 39". Es
stand schlicht auf meiner Geburtsanzeige, die ich zwar desöfteren
schon gelesen hatte, mir insoweit allerdings nie bewußt
geworden war. Wahrscheinlich weil diese Angabe für mich noch
nie von Bedeutung gewesen ist. Nun wurde sie für meine Suche
aber tatsächlich mehr als wichtig, ich war mir jetzt sogar
sicher, daß ich erfolgreich sein müßte. Die Anwort von
Tante Marga kam auch prompt; ihr Brief ist auf der vorletzten
Seite des Albums abgeheftet. Auf dem Stadtplan rot
eingezeichnet sollte nach ihrer Erinnerung der mutmaßlich
richtige Weg zum Haus sein. Als ich dann allerdings bei
meinem nochmaligen intensiven Studium der Karte direkt neben
der roten Linie eine Straße mit dem Namen "ul. Gdanska"
fand, wurde mir endgültig klar: Nur diese Straße dürfte
die Richtige sein ! Mit meinem neuen Wissen und den alten
Photos bewaffnet, insbesondere dem von Tante Marga
mitgeschickten winzigen Bildchen von unserem ehemaligen Haus,
konnte ich nunmehr doch ziemlich beruhigt auf die Reise in
meine tiefste Vergangenheit gehen. ---